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Schlussbemerkungen

Castellios Arte Dubitandi, Kunst des Zweifelns und des Glaubens, des Nichtwissens und des Wissens bestimmte seine Vorstellungen von Gründen und Grenzen der menschlichen Freiheit nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch. Der Deutlichkeit der Schrift gemäß werde der Christ wissen, (höchste Klarheit der Wahrheit), oder zweifeln (höchste Dunkelheit der Wahrheit); dem Nutzen zum Seelenheil gemäß werde er glauben (größter Nutzen der Wahrheit) oder ignorieren (geringster Nutzen der Wahrheit). Dieses mehrstufige Verhältnis zur Wahrheit Gottes bestimmte folglich die die praktische Lebensführung eines Christen: Das Verhältnis von Wissen und Glauben eröffnete den soteriologischen Weg von der Sünde zur Rechtfertigung, aus dem postlapsarischen Tod zum ewigen Leben.

Während nach der zeitgenössischen dominierenden evangelischen und reformierten Orthodoxie der Glaube als innerliche Offenbarung Gottes, also als eine Erkenntnis interpretiert wurde, entsprachen Wissen und Glauben nach Castellio zwei unvereinbaren Gebieten des menschlichen Verstehens. Man glaubte an das, was gleichzeitig wahr und falsch sein konnte; und gerade weil der Mensch an das glaubte, was er nicht wusste und sich ganz auf Christus und die göttliche Lehre verlassen sollte, konnte er von seinen Krankheiten geheilt werden und verdiente die Sündenvergebung und die Versöhnung. Im Gegensatz dazu konnte nach Meinung Castllios nur das gewusst werden, was sich nach der direkten Erfahrung als sicher wahr oder sicher falsch erwiesen hat. Wenn man jedoch die erfahrene Wahrheit konstatierte, wäre das noch kein Verdienst gewesen, weil das Wissen keinen moralischen Wert besitze und keine Voraussetzung für die Erlangung des Heils darstelle. Stattdessen sei das richtige Wissen vielmehr eine Folge des Heils. Castellio beschrieb in der Tat die beatitudo als eine plena scientia, also als ein vollkommenes Wissen. Deshalb kam dort, wo die scientia anfängt, die fides zum Ende, sodass Castellio behaupten konnte, dass »a fide oriri scientiam« – d.h., dass aus dem Glauben (und nur durch die praktische, ethische Erfahrung) das Wissen entstehe. Zwischen diesen zwei Polen des soteriologischen Weges lagen nach Castellio Zweifel und Nichtwissen.

Nach Castellio wisse der Mensch zu Beginn seines Lebens fast nichts, er kenne nur die prima principia, d.h. die Grundprinzipien von Gottes Wahrheit; er glaube dagegen den Worten Jesu und der Heiligen Schrift, deren Inhalt immer mit der prima principia übereinstimme, aber im Detail nicht klar und eindeutig wahr sei. Das Wissen und der Glaube führe den Menschen durch sein gesamtes Leben. Vernunft und Sinne richteten sein Handeln nach dem ethischen Beispiel Christi – magister iustitiae - am rechten Weg aus und die Erfahrung bestätige schließlich den Glauben und verwandele ihn zuletzt in Wissen. Die Erkenntnis von Gottes Wahrheit, die scientia, war also in der Lehre Castellios das Ziel des menschlichen Lebens. Sie stand jedoch ganz am Ende eines soteriologischen Weges, der nur mit dem Glauben beschritten werden konnte. Unter diesen Prämissen wiederholte Castellio stets seinen Wahlspruch: Der Glaube rettet, der Zweifel aber ebenso.

Gerade in dem durch den Glauben geöffneten Bereich des Zweifelns kann Castellio seine Verteidigung der Toleranz begründen: Niemand kann in diesem Leben behaupten, die volle Wahrheit zu besitzen und auf dieser Grundlage die Meinungen anderer zu verurteilen. Niemand kann das Recht beanspruchen, einen Menschen auf der Grundlage seines eigenen Glaubens zu töten, weil der Glaube die göttlichen Geheimnisse und die dunklen Passagen der heiligen Schrift nicht erhellen kann, und weil einen Menschen zu töten, den Grundprinzipien der göttlichen Wahrheit und vor allem dem Beispiel Christi von Barmherzigkeit und Liebe widersprechen würde. Castellios Toleranzdiskurs stellt daher eine radikale Neuformulierung des anthropologischen und soteriologischen Modells dar, das von der reformierten Orthodoxie der damaligen Zeit vertreten wurde. Sein Versuch, Humanismus und Reformation neu zu harmonisieren, blieb zwar weiterhin eine marginale Stimme des 16. Jahrhunderts, die in den reformierten und protestantischen Kirchen abgelehnt und in den katholischen Ländern auf den Index der verbotenen Bücher gesetzt wurde. Seine Schriften verbreiteten sich jedoch - lange Zeit sogar nur als Manuskripte - in ganz Europa; sie wurden zunächst durch die italienischen Dissidenten innerhalb spiritualistischer und radikaler Strömungen rezipiert, danach an andere historische und politische Kontexte angepasst und entsprechend weiter entwickelt, beispielweise unter den Sozinianern in Osteuropa, oder im 17 Jahrhunderts innerhalb des Arminianismus in den Niederlanden oder aber auch im radikalen Pietismus des alten Reiches, bis seine Werke schließlich in der Aufklärung einen wichtigen Beitrag zur damaligen philosophischen Diskussion über die Trennung von Staat und Kirche leisteten. Diese Rezeptionsgeschichte ist allerdings eine andere, die selbstverständlich viel eingehender erörtert werden muss. Ich habe sie trotzdem kurz erwähnen wollen, da sie darauf hinweist, wie die »Arte dubitandi« Castellios und damit das im frühen 16. Jahrhundert in Basel entwickelte Kulturparadigma einen wichtigen Faden darstellt, der mit der modernen Kulturgeschichte Europas verwoben ist.

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