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Wissen und Glauben: die Vernunft zur Schule der Freiheit

Da nach Auffassung Castellios Gott die Heilung der Seelenkrankheiten aller Menschen durch Christus anbot, musste seine Wahrheit, welche die beste Seelenarznei darstellte, allgemein verständlich sein, sonst könnten die Menschen sie nicht befolgen. Aus diesem Grund hatte Gott all seinen Kindern die passenden Mittel gegeben, die göttliche Wahrheit zu erkennen und sich frei für oder gegen diese zu entscheiden. Die Freiheit des Willens, welche die Überwindung der Sünde und ein gehorsames und tugendhaftes Leben mit Hilfe Christi ermöglichte, basierte daher auf einem richtigen Verhältnis zur Wahrheit Gottes, zu seinen Geboten und Offenbarungen. Auch in Bezug auf eine solche erkenntnistheoretische Frage bekräftigte Castellio seine positive Anthropologie. Denn so wie Gott den Vögeln nicht das Futter ins Nest legte, sondern ihnen die Mittel dazu gegeben hatte, es sich selbst zu holen, so habe Gott auch den Menschen die Mittel gegeben, mit denen sie die Dunkelheit der Schrift aufhellen und die Wahrheit Gottes verstehen konnten. Doch was waren das für Mittel? »Non nisi sensuum aut intellectus iudicio«, antwortete Castellio. Wie das allgemeine Wesen des Menschen wurden auch die Sinne und der Verstand durch Adams Sündenfall nicht verdorben; Castellio ging von einem gesunden Urteilsvermögen des Menschen aus. Die Wahrheit sei dem menschlichen Gewissen allgemein gegeben, weil vor allem die Ratio, die Gottes Tochter sei, den Willen und die Lehre des Vaters erkennen könne. Sie wirke in einer doppelten Beziehung: Einerseits sei sie das Licht Gottes, der ununterbrochene sermo Dei, eine in den Menschen wirkende ewige Offenbarung der ewigen Wahrheit (und damit wird deutlich, inwiefern sich die Lehre Castellios vom späteren Rationalismus unterscheidet!); andererseits sei diese Ratio eine dem Menschen angeborene Fähigkeit, eines seiner Organe, ein inneres Wort, das für oder gegen den Menschen Zeugnis ablege, das schließlich die Schrift interpretiere. Die Ratio entspricht also dem ontologischen Band der Schöpfung zwischen Gott und Mensch. Castellio verstand sie deshalb als innerer Kompass des menschlichen Lebens.

Die Sinne und der Verstand waren laut Castellio notwendig, damit der Mensch die res, d.h. den Geist, die Wahrheit, besonders die der Schrift, erkennen jedes Mal, wenn die verba, die Wörter für widerstreitende Meinungen geltend gemacht werden konnten. Sinne und Verstand waren notwendig, um zu unterscheiden, was in die Zuständigkeit der Sinne und des Verstandes fiel und was nicht: »quod sub sensus et intellectus cadat« und »quod supra sensu supraque intellectus sit«. Als Gottes Wahrheitsspur im Gewissen und als von Gott selbst gegebene menschliche Fähigkeiten, war es der Vernunft und den natürlichen Sinnen also möglich, die Abstufung von Gottes Wahrheit zu erkennen. Das hieß, zwischen den unbekannten Geheimnissen Gottes (supra sensus), der klaren und verständlichen christlichen Lehre (sub sensus), sowie den menschlichen Irrtümern in der Auslegung der Schrift (contra sensus) klar zu unterscheiden.

Insbesondere dem Unterschied zwischen supra und contra sensus, für den die menschlichen Urteilsorgane als zuständig galten, widmete Castellio große Aufmerksamkeit. Manche Theologen, wie zum Beispiel Calvin in Genf und Borrhaus in Basel, aber auch spiritualistische Dissidenten wie der Italiener Bernardino Ochino, mit dem Castellio gut befreundet war (hier (PowerPoint) vergleichen Sie dessen Brief an Castellio, in dem Ochino den Glauben als eine Art Wissen beschreibt), hatten die Meinung vertreten, dass Menschen über alles, sowohl über die klare prima principia als auch über die mysteria und die obscuritates scripturae entscheiden sollen dürften. Bei ihnen sollte das aber nicht über die Vernunft und die Sinne geschehen, sondern über ein höheres Verständnis, das den Menschen sola fide geschenkt wurde. Laut Castellio verwechselten damit diese sowohl "orthodoxen" als auch "heterodoxen" Theologen »Wissen« mit »Glauben«, indem sie letzteren für eine Art Erkenntnisprozess halten.

Diese Idee eines nicht Vernunft basierten Zugangs zur Schrift und zur Wahrheit Gottes nannte Castellio »temeritas affirmandi«. Sie widerspreche den natürlichen, logischen und ontologischen Gesetzen, die Gott selbst gegeben hatte, erzeuge falsche Interpretationen der Schrift und führe zu gefährlichen Irrtümern. Als Beispiel für einen solchen Irrtum nennt Catellio die Prädestinationslehre, welche Gott zum Urheber der Sünde und zu einem Betrüger gemacht habe. Vor allem aber münde diese temeritas affirmandi in Gewalttätigkeit und Intoleranz, weil sie die Menschen nicht friedlich mit Vernunft und Ermahnung von sich überzeugen könne und daher jedermann, der eine abweichende Ansicht vertritt, als Ketzer verurteile. Die Intoleranz entstehe also aus falschen anthropologischen, soteriologischen und gnoseologischen Prämissen. Die Toleranzfrage gestaltete sich folglich als Umformulierung bzw. Berichtigung dieser Prämissen, wie ich in diesem Vortrag darzustellen versucht habe.

Als Gegenmittel zur temeritas affirmandi, der Quelle aller Intoleranz, stellte Castellio seine »prudens ignorantia« vor: Sie besteht darin, die menschlichen erkenntnistheoretischen Möglichkeiten durch die Vernunft an die Verstehbarkeitsstufen der Wahrheit (sub, supra oder contra sensus) anzupassen. Was klar zum Seelenheil benötigt werde (die allgemeinen Grundprinzipien der göttlichen Wahrheit und das ethische Beispiel Christi, seiner Gerechtigkeit, Duldung und Liebe), musste gewusst und praktiziert werden; hingegen sollte all dasjenige bezweifelt werden, was in der Schrift unklar und unsicher ausgedrückt war. Folglich musste man nach Ansicht Castellios unterschiedliche Interpretationen dulden bzw. tolerieren, solange sie den Grundprinzipien der göttlichen Wahrheit nicht widersprachen. Was zur Erlangung des Heils unabdingbar und dennoch rational nicht verständlich war (z.B. die Trinität oder die Auferstehung nach dem Tod), musste man glauben; was demgegenüber unnötig und unklar war, sollte man ignorieren können oder unter Berücksichtigung anderer Interpretationen deuten.

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