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Anthropologie und Christologie

Castellios positives Menschenbild führte ihn zu einer neuen Interpretation der Rechtsfertigungslehre. Anstelle der Erlösung von der Sünde aufgrund des Sühnetodes Christi und der Zurechnung seiner Gerechtigkeit für die (sündigen und passiven) Christen, vertrat Castellio eine ganz andere Soteriologie, die die moralische Beteiligung der Menschen einschloss. »Rechtfertigung« bedeutet laut Castellio grundsätzlich die Heilung der Seelenkrankheiten. Dabei sei vor allem eine gottgefällige Lebensführung, eine praktische imitatio Christi, das beste Medikament, um Neid, Hochmut und Geiz durch Nächstenliebe, Bescheidenheit und Großzügigkeit zu ersetzen. Dies führe jedoch auch nicht zu Perfektionismus – die Menschen seien und blieben kranke Wesen, die immer wieder sündigen können. Die Folge sei vielmehr eine Wirkbeziehung zwischen menschlichem und göttlichem Willen. Man erkennt auch hier den Einfluss Erasmus. Die soteriologische Lehre Castellios wird im Wesentlichen als progressive, dynamische, ethische Verbesserung des Menschen entfaltet. Wie bei Luther oder Calvin konnte auch für Castellio die Rechtfertigung, die Reinigung und Verwandlung der Affekte nur durch Christus hervorgebracht werden. In De Arte Dubitandi war jedoch das Erlösungswerk des Sohnes Gottes durch die Darstellung der Methode beschrieben, mit welcher ein Obstbaum dazu gebracht werden konnte, mehr und bessere Früchte zu tragen. Der Geist Christi wurde wie ein neuer Sprössling aufgefasst, der in den alten und kranken Stamm der postlapsarischen menschlichen Natur eingesetzt wird, um so das stetige gesunde Wachstum der Tugend zu ermöglichen.

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Christus wurde folglich nicht mehr nur als Vermittler zwischen den Menschen und Gott verstanden; ihm verdankte man nicht mehr nur die Zurechnung der Gerechtigkeit (imputatio iustitiae). In Castellios Augen war der Sohn Gottes primär ein Lehrer, der mit seinen Worten und Taten die Menschen unterwies. Er war ein erfahrener Arzt, der die kranken Menschen wieder gesund machte, indem er ihre natürlichen Anlagen verstärkte und verbesserte. Christi Wohltat war also eine doppelte: die venia peccatorum und die iustitia. Christus wurde zur Vergebung der Sünde geopfert und hat zugleich durch seine Lebensweise den Menschen gezeigt, wie sie die Gerechtigkeit in die Praxis umsetzen und damit das Heil erlangen können.

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Aber wie bereits Adam durch seinen Sündenfall keine ontologische Veränderung in der menschlichen Natur verursacht hatte, so verwandelte auch Christus nicht das Menschenwesen, das prinzipiell gut sei. Christus hilft nur zu beseitigen, was contra naturam ist, die Seelenkrankheiten, die nicht zum ursprünglichen Willen Gottes gehörten. Gott bot damit nach Catellio die Rettung, die Heilung der Seelenkrankheiten durch das Opfer seines Sohnes, des heiligen Arztes, allen Menschen an, die durch ihre freie Entscheidung für ihr Seelenheil verantwortlich seien. Diejenigen, welche Christi Arznei annehmen würden, würden »sine merito«, ohne eigenen Verdienst (weil die Heilung eine Gnade Gottes ist), nicht aber »sine opera«, nicht ohne eigene Bemühung (weil diese Heilung die menschliche Zustimmung und Kooperation verlangt) gerettet.

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Aus einer solchen Synergie der menschlichen und göttlichen Werke folge, dass die Christen sich die Rechtfertigung durch eine angemessene Lebensführung täglich verdienen müssten. Sie würden in diesem Leben niemals perfekt und die vollkommene Gerechtigkeit Gottes nie erreichen, stattdessen würden sie immer wieder auch Sünden begehen. Jedoch, so Castellio, verderben madige Früchte nicht gleich den ganzen Baum, der immer wieder auch gesundes Obst erzeugte. Castellios Lehre lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Die Menschen seien per se gottgefällig, sie würden eine bona natura, ja gar die imago Dei in sich tragen, obwohl sie unter zahlreichen Krankheiten litten. Mit Christi Mitwirkung aber könnten sie ihren sündigen, vorübergehenden postlapsarischen Zustand überwinden und Heiligung erlangen. Dazu müssten sie sich für Gott entscheiden, die Lehre Christi frei annehmen und vor allem diese Lehre, bzw. die Wahrheit Gottes, erkennen und verstehen lernen. Castellio ging es dabei auch um die Frage nach den Möglichkeiten der menschlichen Erkenntnis, durch welche der Mensch die Wahrheit Gottes begreifen und frei befolgen könne. Wir kommen damit auf den letzten Punkt meines Vortrages, nämlich auf die Kunst des Zweifelns und des Glaubens, des Nichtwissens und des Wissens als Voraussetzung des Toleranzlehre Castellios.

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