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Historische Einführung

Sebastian Castellio (1515-1563) steht mit seinem eigenen Leben für den Versuch, die Tradition von Erasmus mit der Agenda der Reformation zu vereinen. Mit einer soliden humanistischen Ausbildung wechselte Castellio schon früh auf die Seite der Reformation und arbeitete in den frühen 40er Jahren des Jahrhunderts mit Calvin in Genf zusammen. Doch die Differenzen zwischen den beiden hinsichtlich der Schriftauslegung und der Kirchenzucht erwiesen sich bald als unüberbrückbar, sodass Castellio bereits 1544 nach Basel flüchten musste.

Ein Jahrzehnt lang konnte er nur schwer, nur durch Ausübung unterschiedlichster Berufe überleben; unter anderem half er in der Druckwerkstatt Johannes Oporinos aus. In diesen Jahren knüpfte Castellio jedoch nicht nur immer engere Beziehungen zu den Basler Humanisten und insbesondere zu den italienischen exules religionis causa, deren spiritualistische, neuplatonische Tradition er aufnahm, sondern er veröffentlichte auch seine ersten Schriften, und zwar seine lateinische Übersetzungen der heiligen Schrift, aber auch anderer klassischer und spiritualistischer Werke. Als er 1553 schließlich eine Stelle als Professor für Griechisch an der Universität Basel erhielt, eskalierte der Streit mit Johannes Calvin, dem Reformator Genf. Nicht nur die alte Auseinandersetzung bezüglich der Schriftauslegung, sondern eine viel tiefgreifendere Frage wurde angesprochen: Darf die Kirche, bzw. deren Leitung, also die Theologen, einen Menschen wegen seiner (wenn auch irrigen) religiösen Überzeugungen zum Tode verurteilen? Anlass zu dieser Frage gab das berühmte Todesurteil von Michel Servet, einem spanischen Arzt und Humanisten, der eine antitrinitarische Lehre vertrat und deshalb - primär auf Betreiben Calvins - im Oktober 1553 als Ketzer in Genf verbrannt wurde. Als Reaktion veröffentlichte Castellio wenige Monate danach sein De haereticis an sint persequendi, eine Sammlung von Texten berühmter Theologen, von Augustin bis Martin Luther, die sich gegen die Todesstrafe und für die Gewissensfreiheit aussprachen.

Er initiierte damit eine Diskussion über die Voraussetzungen und Grenzen der Toleranz innerhalb der protestantischen Welt – ein Thema, das ihn für den Rest seines Lebens beschäftigen sollte. Darüber hinaus belebte diese Diskussion, in der Castellio sich sehr oft auf Martin Luther berief, die Betrachtung der Auseinandersetzung zwischen Erasmus und Luther in den Jahren 1524/1525 über den freien Willen neu. Wie damals die Unvereinbarkeit der anthropologischen und theologischen Ansätze Erasmus und Luthers die Spaltung zwischen Humanismus und Reformation bewirkte, versuchte nun Castellio in der Mitte des 16. Jahrhunderts das humanistische, erasmianische Erbe ein weiteres Mal in die Reformation einzubinden, um den menschlichen freien Willen und die göttliche erlösende Wahrheit miteinander zu vereinen. Wenn die Toleranzlehre nicht in diesen breiteren Kontext gesetzt wird, ist ihre Bedeutung schlichtweg nicht greifbar.

Obwohl die theologischen Anschauungen Castellios auch aus den bekannten Toleranzschriften der Jahre 1554–1555 ersichtlich werden, sind wesentliche Ergänzungen und Differenzierungen erst in den späteren Schriften zu finden. Sie entstanden aus seiner Konfrontation mit der Genfer Orthodoxie - Johannes Calvin und Theodore de Beze - und dessen Basler Anhänger - in der Person Martin Borrhaus' - aber auch aus seinem ständigen kulturellen Austausch mit den "Dissidenten" wie Bernardino Ochino. Vor allem in den Dialogi Quatuor und in seiner berühmten Schrift De Arte Dubitandi stellt Castellio sein »systema thelogicum« detailliert dar. Diese zwei Schriften bilden daher die Grundfolie meines heutigen Vortrages. Sie offenbaren zunächst die anthropologischen Prämissen der Toleranzlehre Castellios.

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