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Sündenlehre und Willensfreiheit. Die anthropologische Prämisse.

Ausgangspunkt der Überlegungen Castellios war sein Einwand, dass die Prädestinationslehre den allmächtigen Gott zum Urheber der Sünden gemacht habe, da sich aus ihr die Schlussfolgerung ergebe, dass Gott gewisse Menschen bereits als Sünder geschaffen habe. So wie Gott also dem Wolf seine eigene Natur gegeben habe, so hätte er auch die Menschen mit ihren bösen Neigungen geschaffen. Diejenigen, die zur Verdammnis prädestiniert sind, können daher gar nicht anders, als Sünden zu begehen. Warum aber – fragte Castellio – soll der Vater seine Kinder für die Eigenschaften, die er ihnen selbst gegeben hat, bestrafen? Wie kann er sein eigenes Schöpfungswerk für so sündig halten? Wenn Gott durch Christus alle Menschen zum Heil einlädt, dann aber nur eine Minderheit auserwählt und für gerecht hält, die Mehrheit dagegen unfrei ist und notgedrungen dasjenige will, was nicht gottgefällig ist – sollte man Gott nicht für einen Betrüger halten?

Mit diesen und anderen rhetorischen Fragen versuchte Castellio, die totale Widersprüchlichkeit der Prädestinationslehre von Calvin und der Genfer Orthodoxie, wie auch von seinem Basler Kollegen, dem Theologen Martin Borrhaus, offenzulegen. Sie alle machten Gott zum author peccati und simulator. Castellio setzte der Prädestinationslehre seine anthropologischen Überlegungen entgegen und behauptet, dass alle Menschen gleich geschaffen seien, dass sie frei seien und dass jeder gleichermaßen das göttliche Heil erlangen könne.

In Castellios Augen unterliegt die ganze Schöpfung – das heißt die Natur und die Menschen – klaren natürlichen Gesetzen, die dem Willen Gottes völlig entsprechen. Gott würde diese Gesetze und diese natürliche Ordnung niemals verändern, da er seinem eigenen Willen nicht widersprechen kann. Er würde daher nichts unternehmen, was gegen seine Schöpfung gerichtet ist. Wie aber hat Gott die Menschen geschaffen? Nach seinem Bild, nach der imago Dei – antwortet Castellio, im Einklang mit Erasmus – und daher so frei, wie er selbst ist: Die Menschen sind Gottes Kinder, freie Söhne eines freien Vaters. Freiheit und Gehorsam gehören zusammen. Ein erzwungener Gehorsam sei widersprüchlich, sei Sklaverei. Hätte Gott Adam zum Gehorsam gezwungen, wäre Gott seinem eigenen Willen untreu geworden, da er einen nach seinem Ebenbild geschaffenen, freien Sohn in einen Sklaven verwandelt hätte.

Die menschliche Freiheit bringe nun aber eine entsprechende Verantwortung mit sich: Gott habe gewollt, dass der erste Mensch frei sei, obwohl das Risiko bestand, dass er von ihm abfiele, so wie es in der Tat geschehen ist. Castellio verwirft damit die Existenz von Sünden nicht, er vertritt keine Anthropologie des Perfektionismus, sondern gesteht ein, dass auf der Welt vieles der göttlichen Absicht widerspricht: Jedes Mal, wenn die Menschen sich gegen Gott entscheiden und ungehorsam sind, würden sie das Schicksal Adams wiederholen. Und trotzdem habe sich das menschliche Wesen durch den Fall Adams nicht ontologisch verändert: Als Mensch – so Castellio – konnte Adam mit seiner Entscheidung das Schöpfungswerk Gottes nicht verändern; andernfalls wäre der Wille des Vaters abhängig von der menschlichen Entscheidung, was die Gegebenheiten erneut ad absurdum führen würde.

Castellio sprach folglich nur von einzelnen Verfehlungen, von Sünden im Plural, also von provisorischen und überwindbaren Defekten, aber von keinem Zustand des Wesens. Sünden seien freie menschliche Entscheidungen gegen Gott und seine Gesetze, Seelenkrankheiten, morbi, welche dem menschlichen Wesen widersprechen und daher für contra naturam gehalten werden müssten. Diese Seelenkrankheiten aber könnten geheilt werden, sie bedürften nur der Hilfe des Seelenarztes, der Hilfe Christi.

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